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out-takes
text
(Dieter Schnaas/ Autor, WirtschaftsWoche)
Der amerikanische Soziologe David Riesman hat in seiner Studie „The Lonely Crowd“ (1950) zwischen drei Charaktertypen unterschieden, zwischen traditionsgeleiteten, innengeleiteten und
außengeleiteten Menschen. Man trifft diese Charaktertypen niemals in Person an und kann sie auch keiner Zeit eindeutig zuordnen. Und doch kennt jeder sie nur zu genau: Der traditionsgeleitete
Mensch der vorindustriellen Zeit ist ein Wurzelwesen. Er schöpft aus dem reichen Reservoir der Religion, Kultur und Geschichte. Er baut auf Bewährtes, achtet Erfahrenes, hegt Überliefertes. Der
innengeleitete Mensch der rationalen Moderne benutzt einen Kompass. Er weiß sich intrinsisch zu motivieren, sich langfristige Ziele zu setzen - und steuert sie aus Interesse an Macht, Ruhm,
Wahrheit oder Schönheit an. Der außengeleitete Mensch der digitalen Postmoderne ist mit einer feinen Antenne ausgestattet. Er spiegelt sein Leben im Leben der anderen, braucht viel Rückkopplung
und Feedback, viel Lob und Anerkennung, um sich permanent und in Echtzeit seiner Einpassung zu vergewissern. Anna Bittersohls Malerei bezieht ihre Spannung vor allem aus der Tatsache, dass sie
sich solchen Zuordnungen radikal widersetzt. Sie sucht den Zugang zur Welt nicht im Wege des Zeitgemäßen, Typischen, Definitiven, sondern des Überzeitlichen und Unbestimmten. Der Modus ihrer
Malerei ist die Frage, das schwebende Verfahren, nicht die Antwort, der Versuch einer Setzung.
Mögen andere sich in ihren Arbeiten ihrer Wurzeln, Kompasse und Antennen versichern, an die Tradition anknüpfen, ihr Ich erforschen, sich am Populären versuchen. Anna Bittersohls Sache ist es
nicht. Ihr künstlerischer Anspruch besteht in der Auslotung dessen, wozu allein Kunst fähig ist. Sie, Anna Bittersohl und ihre Kunst, unternehmen den paradoxen Versuch, Phänomene des Zeit- und
Ortlosen zu bannen, dem Wirklichen als Möglichen auf die Spur zu kommen - das Wahre, Gute, Schöne im Wege der Fiktion zu fixieren.
Daher das Personal, das Anna Bittersohls Bilderwelt bevölkert: Geworfene, Entrückte, Versehrte. Pilgerinnen, Suchende, Wanderer. Indianer, Magiere, Wunschweltbewohnerinnen. Anna Bittersohl stellt
uns den Menschen archetypisch vor: als zur Freiheit verdammten Paradiesvertriebenen (der Geworfene), der aus Begabung gezwungen ist, seiner Existenz einen Sinn beizumischen (die Pilgerin) - und
der, durch technische Könnerschaft sich selbst entfremdet, von einer zweiten Unschuld träumt (die Wunschweltbewohnerin). Anna Bittersohl zeigt uns Unbehauste, die ganz bei sich sind: Suchende,
die sich gefunden haben, weil hier das Suchen nicht das Finden zur Absicht hat, sondern sich durch passive Aufmerksamkeit auszeichnet - durch ein nicht-intentionales Entgegenkommen, ein
Einlassen. Mit Martin Heidegger gesprochen: Anna Bittersohls Bilder sind Reflektionen über das In-der-Welt-Sein aller menschlichen Existenz – und, neuerdings oft skizzenhaft überzeichnet, auch in
formaler Hinsicht eine sinnfällige Kritik des genauen, empirisch-unterwerfenden, objektivierenden Zugriffs auf sie.
Ihre Figuren sind typisch modern in der existenziellen Gebrochenheit, mit der sie uns vor Augen geführt werden: einsam und ich-verloren, selbst wenn sie, sehr ausnahmsweise, als Paar oder Gruppe
in Erscheinung treten. Es sind, um an Riesmans Charaktertypen anzuknüpfen, starke, innengeleitete Charaktere, die sich jedoch vom Vormarsch der Vernunft bedrängt sehen und den Triumphzug von
Fortschritt und Aufklärung nur noch als zivilisatorisches Rauschen wahrnehmen: Helden und Heilige einer Antirationalität (oft aureolisch herausgestellt), die sich das Glück des vormodernen
Lebensgefühls, der religiösen, kulturellen Umfangenheit, der Berührungsfähigkeit erhalten haben durch das, wessen Teil sie sind. Daher auch die Durchsichtigkeit von Anna Bittersohls Figuren, ihre
Luzidität und Transparenz, ihre osmotische Offenheit für jede Art von Weltbeziehung: Meist ihres buchstäblich erkennenden Sinns, der Augen, beraubt und damit der Möglichkeit der
wissenschaftlich-erobernden Beherrschung der Natur entzogen, tasten sich Blinde in eine Wahrheit hinein, die unverkennbar naturreligiöse Züge trägt und in der Anna Bittersohl das Ewige und
All-Eine verehrt.
Konsequent ist der Mensch in vielen Bildern Anna Bittersohls nur ein Zaungast: Das Göttliche ist zur Veranschaulichung seiner selbst nicht auf humane Sinnproduktionsversuche angewiesen. Wir
treffen ihn, den Menschen, maximal eingelassen in einer pantheistisch beseelten Natur an, die sich in Anna Bittersohls Schaffen als Sujet eigenen Rechts behauptet - und deren ikonografische
Stille und Erhabenheit sich dezidiert nicht einem realistischen Blick, sondern allein traum-malerischer Anverwandlungskraft verdanken.
Deshalb auch schmerzt Anna Bittersohls Malerei, übrigens umso mehr, seit sie in kräftigen Farben Ausrufezeichen setzt (Rot! Gelb! Pink!): Bei ihren von Papageien, Pfauen und Kanarienvögeln, von
Orchideen, Fackel-Ingwer und Fingerhut bunt belebten Sumpf- und Dschungellandschaften handelt es sich um seltsam beglaubigte, kontaminierte Paradiese: In „Scala“ pocht Pythagoras‘ heilige
Geometrie auf ihr Recht; die Stadtbewohner in „Asche I (Seestück I/∞)“ streben als irrende Außerirdische aus dem Bild.
Anna Bittersohl erinnert uns daran, dass wir Modernen mit jedem Zugewinn an Optionsvielfalt, mit jeder Vergrößerung unseres Aktionsradius, mit jedem Bequemlichkeitszuwachs, jeder Optimierung und
Sensationalisierung unseres Alltags zugleich das Risiko erhöhen, unser „natürliches“ Leben zu verpassen. Ihre größten Leinwände sind nichts weniger als gewaltige Mahnmale: Negativzeugen des
„stahlharten Gehäuses“, in dem schon Max Weber den modernen Menschen eingesperrt sah.
Das Dilemma des modernen Menschen, Anna Bittersohl weiß es, ist nicht durch den Mangel bezeichnet, sondern durch den Überfluss. Es besteht nicht wie ehedem darin, dass er über zu wenige
Lebenschancen verfügte, sondern über zu viele. Noch einmal mit Riesman: Die außengeleitete Instagram-Generation ist stark geprägt von den Erfolgen und Ansprüchen ihrer Mitmenschen, ständig um
vergleichende, allgemein akzeptierte Singularität bemüht: Seht her, so (toll) bin (nur) ich! Problematisch ist das vor allem, weil diese Instagrammer nur ein einziges (ihr eigenes) tolles Leben
im Indikativ führen können – und weil es das tolle Leben aller anderen nur im Konjunktiv gibt: als das Leben, das man selbst stattdessen führen könnte, aber leider gerade verpasst.
Anna Bittersohl zeigt uns: In der Optionsvielfalt der modernen Welt erfährt selbst der erfolgreichste Manager, der selbstbestimmteste Gründer und glücklichste Erbe sich notwendig als Mängelwesen
- als der Bergsteiger, die Tauchlehrerin, der Weltreisende, der Goethekenner, Familienmensch, Gourmetkoch und Kunstliebhaber, der er nicht ist. Ganz gleich, wie viele Weltumrundungen,
Ozeanüberquerungen, Partnereroberungen und Konsumhöhepunkte wir schon erlebt haben – wir alle sitzen, eilend von einer Sensation zur nächsten, auf einem Berg des Noch-Nicht-Getanen oder,
schlimmer noch: des unwiderruflich Versäumten.
Es sei denn, man schrottet seine Antennen. Wirft seinen Kompass weg. Suspendiert die Tradition.